Überstunden im Krankheitsfall
[themecolor]Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.
Juni 2002, Geschäftszeichen 5 AZR 511/00[/themecolor]
Leitsätze der Bearbeiterin:
- § 4 Abs. 1 EFZG geht für die Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall von einem sog. modifizierten Lohnausfallprinzip aus.
Danach ist allein eine individuelle, vergangenheitsbezogene Betrachtung der Arbeitszeit zulässig und geboten, um die regelmäßige Arbeitszeit in diesem Sinne zu ermitteln. - Nach § 4 Abs. 1a Satz 1 EFZG gehört zum Arbeitsentgelt nach Abs. 1 nicht das zusätzlich für Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt.
- Überstunden in diesem Sinne meint nicht die regelmäßig erbrachte, über der tariflich vereinbarten oder betriebsüblichen Arbeitszeit liegende Arbeitsleistung, sondern die wegen bestimmter besonderer Verhältnisse vorübergehend und zusätzlich geleistete Mehrarbeit.
Problempunkt:
Die Parteien stritten über die Höhe der im Krankheitsfall zu leistenden Entgeltfortzahlung. Der Kläger ist bei der Beklagten als Installateur beschäftigt; auf das Arbeitsverhältnis findet der für allgemeinverbindlich erklärte Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV) Anwendung.
Im Jahr 1999 war der Kläger mit Unterbrechungen 38 Tage krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Bei der Berechnung der Entgeltfortzahlung legte die Beklagte die tariflich vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden zugrunde. Der Kläger hatte allerdings im Jahr 1999 bis zu seiner ersten Erkrankung regelmäßig mehr als 40 Stunden in der Woche gearbeitet; bis Oktober 1999 hatte er bereits 492 Mehrarbeitsstunden angesammelt. In den Monaten Juni, Juli und August belief sich seine Arbeitszeit zusätzlich zur tariflich geleisteten auf 94, 57,5 und 54 Stunden.
Der Kläger macht geltend, dass bei der Berechnung der Entgeltfortzahlung die im Referenzzeitraum der letzten 3 Monate geleistete Mehrarbeit zu berücksichtigen sei und klagte die Differenz zum tatsächlich gezahlten Betrag ein.
Die beiden Vorinstanzen hatten die Klage abgewiesen. Das BAG hob das Urteil des Landesarbeitsgerichts auf und verwies die Sache zur weiteren Sachaufklärung zurück.
Entscheidung:
Das Bundesarbeitsgericht stellte fest, dass hier zur Berechnung der Höhe der Entgeltfortzahlung die gesetzlichen Bestimmungen Anwendung finden, da die tarifvertragliche Regelung zuungunsten der Arbeitnehmer von § 4 Abs. 1 EFZG abweicht, da nach der tariflichen Regelung Arbeitnehmer nur eine Fortzahlung in Höhe von 80% des bei ihnen bei der für sie maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Entgeltes erhielten.
§ 4 Abs. 1 EFZG legt der Berechnung der Entgeltfortzahlung ein sog. modifiziertes Lohnausfallprinzip zugrunde, wonach allein maßgebend die individuelle Arbeitszeit des betroffenen Arbeitnehmers ist. Schwierigkeiten können sich dann ergeben, wenn diese schwankt. Anzuwenden ist in diesen Fällen eine vergangenheitsbezogene Betrachtung im Referenzzeitraum. Es ist darauf abzustellen, welche Arbeitsleistung tatsächlich ausgefallen und nicht, welche tarifliche und betriebsübliche Arbeitszeit zwischen den Parteien vereinbart worden ist. Auch gesetzliche oder tarifliche Regelungen zu Höchstarbeitszeiten können vernachlässigt werden, da sie lediglich zum Schutz der Arbeitnehmer dienen.
Zusätzlich für Überstunden gezahltes Entgelt darf nicht Bemessungsgrundlage der Entgeltfortzahlung sein. Der Begriff der Überstunden ist bei näherer Betrachtung allerdings auslegungsbedürftig. Das BAG stellt fest, dass § 4 Abs. 1a Satz 1 EFZG nach seinem Wortlaut und Sinn grundsätzlich auch wiederholt geleistete Überstunden meint, also auch die Fälle, in denen ein Arbeitnehmer regelmäßig die tariflich oder arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit überschreitet. Allerdings sieht auch das BAG, dass es Arbeitnehmer gibt, die ständig eine bestimmte, über der tariflichen oder individuell vereinbarten Arbeitszeit liegende Arbeitsleistung erbringen. In diesen Fällen kann nicht von Überstunden gesprochen werden, da diesen immer ein vorübergehender, zusätzlicher Charakter innewohnen muss.
Im Ergebnis ist daher für die Berechnung der Höhe der Entgeltfortzahlung ein Vergleichszeitraum zugrunde zu legen, um die Besonderheiten des betroffenen Arbeitsverhältnisses angemessen berücksichtigen zu können. Zieht man einen Vergleichszeitraum von 12 Monaten heran, so werden unbillige Zufallsergebnisse jedenfalls vermieden.
Im vorliegenden Fall musste die Sache an die Tatsacheninstanz zurückverwiesen werden, damit dort die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Klägers, die jedenfalls über den tariflich vereinbarten 40 Wochenstunden liegt, ermittelt werden kann.
Konsequenzen:
Bei der Berechnung der Höhe der Entgeltfortzahlung ist in Zukunft durch den Arbeitgeber ein Vergleichszeitraum der letzten 12 Monate zugrunde zu legen. Dies betrifft alle Arbeitsverhältnisse, in dessen Rahmen der Arbeitnehmer zeitlich schwankende Arbeitsleistungen erbringt, also auch solche, in denen regelmäßig Überstunden erbracht werden. In jedem Einzelfall ist zu entscheiden, ob es sich bei der Mehrarbeit um Überstunden im oben erläuterten Sinne handelt, also um Mehrarbeit, die einen vorübergehenden und zusätzlichen Charakter hat, oder um regelmäßig erbrachte Überstunden, die lediglich über die tariflich oder einzelvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinausgehen. Daraus ergeben sich für die Höhe der zu leistenden Entgeltfortzahlung erhebliche Konsequenzen.
Praxistipp:
Zunächst ist im Fall der Entgeltfortzahlung vom Arbeitgeber zu prüfen, ob die entsprechende tarifvertragliche Regelung im Hinblick auf § 12 EFZG i. V. m. § 134 BGB überhaupt noch Anwendung findet. Sodann ist nach den oben genannten Grundsätzen bei der Ermittlung der regelmäßigen Arbeitszeit ein Referenzzeitraum von 12 Monaten zugrunde zu legen. Schließlich ist die regelmäßige Arbeitszeit als Bemessungsgrundlage heranzuziehen, auch wenn diese Arbeitszeit über der tariflich oder arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitszeit liegt, dies sogar dann, wenn sie über den erlaubten Höchstarbeitszeiten liegt.
Katrin Borck
Fachanwältin für Arbeitsrecht
Dieser Kommentar wurde veröffentlicht in der Zeitschrift „Arbeit und Arbeitsrecht“, HUSS-MEDIEN GmbH, Heft 04/03