Nachträgliche Aussetzung des Weiterbeschäftigungsanspruchs

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 08. April 2010, Geschäftszeichen 13 Sa 282/10

§ 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG

Leitsätze der Bearbeiterin:

  1. Ein Antrag des Arbeitgebers im Berufungsverfahren, die sofortige Vollstreckung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs vorläufig einzustellen, kann nur erfolgreich sein, wenn die Tatsache, dass ein unersetzbarer Nachteil droht, erst nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils beweisbar wurde.
  2. Einem Arbeitgeber drohen unersetzbare Nachteile, wenn er einen Arbeitnehmer weiterbeschäftigen muss, der beweisbar während der Dauer des Kündigungsschutzverfahrens bei einem Konkurrenzunternehmen am Sitz des Arbeitgebers dieselbe Tätigkeit ausübt.

Problempunkt:
Obsiegt ein Arbeitnehmer erstinstanzlich mit seiner Kündigungsschutzklage und lässt er gleichzeitig seinen allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch feststellen, hat dies für den Arbeitgeber während der Fortdauer des Verfahrens zwei maßgebliche Konsequenzen:

  • Zum einen unterliegt der Weiterbeschäftigungsanspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit, so dass der Mitarbeiter jederzeit verlangen kann, wieder zu arbeiten.
  • Zum anderen gerät der Arbeitgeber in die Gefahr, dass er Nachteile erleidet, die selbst im Fall der späteren endgültigen Abweisung der Kündigungsschutzklage nicht mehr rückgängig zu machen sind, wenn er den Betreffenden tatsächlich weiterbeschäftigt.

Im vorliegenden Fall hegte der Arbeitgeber bereits seit Längerem den Verdacht, dass die gekündigte kaufmännische Angestellte bei seinem direkten Konkurrenzunternehmen (mit dessen Geschäftsführer sie verheiratet ist) derselben Tätigkeit wie bei ihm nachging. Die Arbeitnehmerin stritt diese Vermutung im Kündigungsschutzprozess ab. Das Gericht gab ihrem Weiterbeschäftigungsanspruch statt. Der Arbeitgeber konnte den Sachverhalt jedoch nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils beweisen und beantragte wegen drohender unersetzbarer Nachteile gem. § 62 Abs. 1 Satz 2 Arbeitsgerichtsgesetz die sofortige Vollstreckbarkeit des Urteils vorläufig zu untersagen. Er befürchtete, dass die Arbeitnehmerin – sollte sie ihre Weiterbeschäftigung durchsetzen – zwingend mit Informationen über Kunden und anderen sensiblen Daten in Kontakt käme und diese an das Konkurrenzunternehmen weitertragen würde.

Entscheidung:
Das LAG folgte der Auffassung des Arbeitgebers und untersagte vorläufig, den Weiterbeschäftigungsanspruch zu vollstrecken. Der Arbeitgeber hatte glaubhaft gemacht, dass die Arbeitnehmerin eine Konkurrenztätigkeit ausübt. So führte sie belegbar für das Konkurrenzunternehmen Kundengespräche und übergab eine Visitenkarte dieser Firma mit ihrem (handschriftlich) vermerkten Namen an eine potenzielle Kundin. Darüber hinaus erklärte sie sich ausdrücklich bereit, für weitere Nachfragen zur Verfügung zu stehen.

Der Arbeitgeber konnte hier auch noch nach Abschluss der ersten Instanz verlangen, dass das Gericht die vorläufige Vollstreckung aussetzt, weil die Konkurrenztätigkeit erst nach Verkündung des Urteils des Arbeitsgerichts beweisbar wurde. Die Entscheidung steht daher im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des BAG, wonach der Arbeitgeber grundsätzlich dem Weiterbeschäftigungsanspruch bereits in der ersten Instanz entgegentreten muss. Ausnahmen bestehen nur, wenn er – wie hier – die entsprechenden Tatsachen erst nach Abschluss des Verfahrens beweisen kann.

Konsequenzen:
Gibt das Gericht einem Antrag auf Einstellung der vorläufigen Vollstreckung des Weiterbeschäftigungsanspruchs statt, hat dies nach Auffassung der Verfasserinnen zur Folge, dass der Arbeitgeber – jedenfalls für die Zeit, während der der Mitarbeiter woanders tätig ist – nicht in Annahmeverzug gerät. Ist es ihm aufgrund der zu erwartenden Nachteile unzumutbar, den Betreffenden weiterzubeschäftigen, muss er auch die Arbeitsleistung nicht annehmen. Selbst wenn die letzte Instanz feststellen sollte, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht, braucht er damit nicht (rückwirkend) die Vergütung für diese Zeit zu zahlen. Die Konstellation weicht also vom Grundsatz ab, dass der Arbeitgeber das Annahmeverzugsrisiko während des Kündigungsschutzverfahrens trägt.

Praxistipp:
Der Arbeitgeber sollte – soweit die erste Instanz festgestellt hat, dass sowohl das Arbeitsverhältnis als auch ein allgemeiner Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten Arbeitnehmers fortbestehen – das Vollstreckungsrecht nicht aus den Augen verlieren. Gelingt es ihm, zu beweisen, dass der Mitarbeiter mittlerweile bei einem Konkurrenzunternehmen arbeitet und zu befürchten ist, dass er dort in jedem Fall weiter tätig sein wird, kann er die vorläufige Vollstreckung mit der Begründung, dass unersetzbare Nachteile durch die Weiterbeschäftigung gem. § 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG drohen, ggf. auch dann noch einstellen lassen

Katrin Borck und Claudia Heffler
Fachanwältinnen für Arbeitsrecht

Dieser Kommentar wurde veröffentlicht in der Zeitschrift „Arbeit und Arbeitsrecht“, HUSS-MEDIEN GmbH, Heft 12/10

Arbeitsgerichte Mainz und Düsseldorf untersagen Warnstreik GDL

ArbG Mainz 10. Juli 2007 – 3 Ga 18/07

Tenor:
Der Antragsgegnerin wird es bis zum Ende der Laufzeit der ungekündigten Tarifverträge KEUTV, Konzern ZÜTV, KonzernJobticketTV und MaBetTV untersagt, ihre Mitglieder und sonstige Arbeitnehmer der Antragstellerin zu Streiks aufzurufen und/oder Streiks in den Betrieben der Antragstellerin durchzuführen, um den Abschluss eines Spartentarifvertrages für das Fahrpersonal im Schienenverkehr mit den sich aus Anlage Ast 2 in Verbindung mit Anlage Ast 12 ergebenden Inhalten durchzusetzen.

[…]

Gründe:
[…] Zwar stellt ein gewerkschaftlich geführter Streik mit zulässigem Kampfziel keinen unzulässigen Eingriff in den Gewerbebetrieb des betroffenen Unternehmens dar, sondern ist durch Artikel 9 Absatz 3 GG geschützt. […] Rechtswidrig sind insbesondere Arbeitskämpfe, die unter Verstoß gegen die einem Tarifvertrag immanente und unabdingbare Friedenspflicht unternommen werden. […] Gegenstände, die der Tarifvertrag abschließend regelt, dürfen während dessen Laufzeit nicht zum Gegenstand von Arbeitskämpfen gemacht werden. Verletzt ein Arbeitskampf die Friedenspflicht, so ist er insgesamt rechtswidrig, auch wenn die kampfweise geltend gemachten Forderungen teilweise mit der Friedenspflicht vereinbar wären. […]

Kleine Ursache mit großer Wirkung:

Nicht die ungewöhnlich hohen Gehaltsforderungen der Lokomotivführer, sondern die Forderung nach einem Freifahrschein („Jobticket“), der auch für andere Eisenbahnverkehrsunternehmen jenseits des Bahn-Konzerns gilt, führt zur Rechtswidrigkeit der Warnstreiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Der Fehler der GDL lag darin, dass der von ihr verlangte neue Fahrpersonaltarifvertrag (FPTV) sich nicht auf höhere Gehaltsforderungen beschränkt, sondern auch Verbesserungen bei anderen Leistungen des Arbeitgebers fordert. Darunter fällt insbesondere das Jobticket, das nach dem aktuell geltenden „KonzernJobTicket-Tarifvertrag“ derzeit nur für Züge des Bahnkonzerns gilt. Der KonzernJobTicket-Tarifvertrag ist nicht gekündigt und daher weiterhin gültig. Die Grundthese der Beschlüsse von Mainz und Düsseldorf lautet: Solange ein Tarifvertrag ungekündigt ist, gilt als oberstes Gebot die Friedenspflicht. Gestreikt werden darf erst, wenn gekündigt ist – ansonsten fehlt das „zulässige Kampfziel“. Und wenn nur ein Teilziel des Arbeitskampfes tarifvertraglich geregelte – also „friedenspflichtige“ – Fragen betrifft, wird der Arbeitskampf insgesamt rechtswidrig. Im Zweifel besteht also Friedenspflicht.

Überraschend ist allein, dass die GDL sich nunmehr so verhält, als sei sie überrascht. Besonders „mutig“ ist in diesem Zusammenhang, dass der Streik zunächst mit der Begründung durchgeführt wurde, die einstweilige Verfügung mit dem Streikverbot sei noch nicht zugestellt. Die GDL kann sich nicht darauf berufen, sie hätte ein Verbot des Streiks nicht erwartet – sie hätte es besser wissen müssen: Dies ist nicht die erste Auseinandersetzung zwischen der GDL und dem Bahn-Konzern, die so endet. Bereits 2003 hatte das Arbeitsgericht Frankfurt mit einer einstweiligen Verfügung einen Streik bei einem Tochterunternehmen der Bahn untersagt, weil die GDL einen Spartentarifvertrag forderte, der unter anderem höhere Zulagen vorsah. Die Zulagen waren damals innerhalb des Bahn-Konzerns durch einen ungekündigten Tarifvertrag geregelt. Schon damals befand das Landesarbeitsgericht Hessen: „Die gesetzliche Friedenspflicht ist verletzt, wenn ein Spartentarifvertrag, der inhaltliche Überschneidungen mit einem noch geltenden Tarifvertrag hat, mit Mitteln des Arbeitskampfes durchgesetzt werden soll“ (LAG Hessen, 05. Mai 2003 – 9 Sa Ga 636/03). Diese Verfügung wurde durch zwei Instanzen – zuletzt durch das LAG Hessen – bestätigt. Hier wurde der Streik ebenfalls ausdrücklich deswegen für rechtswidrig befunden, weil die Forderungen der Gewerkschaft auch solche Fragen betrafen, die in einem noch ungekündigten Tarifvertrag geregelt waren.

Man fragt sich: War der GDL dieses Risiko nicht bekannt? Oder nahm sie Schadenersatzansprüche der Bahn billigend in Kauf? Aber vielleicht findet die GDL Trost in den Worten Ciceros: Den ungerechtesten Frieden finde ich immer noch besser als den gerechtesten Krieg.